Von Anuscheh Amir-Khalili
Anuscheh Amir-Khalili wurde 1977 im Iran geboren. Im Alter von acht Jahren musste sie aufgrund des Iran-Irak-Krieges nach Deutschland fliehen. Heute ist es ihre Mission, Frauen mit ähnlichem Hintergrund zu stärken. Sie gründete den Verein Flamingo e.V., eine in Berlin ansässige NGO, die geflüchtete Frauen* in Deutschland unterstützt. Mit Band of Sisters gründete sie ein Projekt, das sich auf die feministische Zusammengehörigkeit von Frauen* aus dem Nahen Osten konzentriert.
Liebe Männer des Westens,
schaut in den Nahen Osten für eure Lektionen im Feminismus. Guckt ganz genau hin und macht Notizen:
Anfang des Jahres hat das iranische Regime den 22-jährigen Karate-Champion Mohammad Mehdi Karami und den 20-jährigen Sejjed Mohammad Hosseini hingerichtet. Sie waren in die Proteste verwickelt, die das Land seit dem Mord an Jina Mahsa Amini am 16. September 2022 erschüttert haben.
Im Herbst 2022, wenige Wochen, nachdem die Taliban angekündigt hatten, die Universitätsbildung für alle Studentinnen auszusetzen, zerriss ein Professor in Kabul im afghanischen Live-Fernsehen sein Diplom und erklärte mit Tränen in den Augen, dass er diese Abschlüsse nicht akzeptiere, wenn seine Schwester und Mutter nicht studieren könnten. Wenige Tage später wurde er verhaftet und misshandelt.
Es gibt unzählige Beispiele wie diese von Männern im Nahen Osten, die sich für die Rechte der Frauen einsetzen. Sie weigern sich, die degradierende und entmenschlichende Unterdrückung hinzunehmen. Sie schweigen nicht, trotz der immensen Gefahr, die ihnen droht. Sie wissen, dass sie für die Freiheit der Frauen sterben könnten, und in vielen Fällen tun sie das auch.
Die Männer im Nahen Osten wurden historisch als harsch, patriarchal und gewalttolerant dargestellt, deren kulturelle und religiöse Werte im Widerspruch zu den liberalen (sprich: westlichen) Werten stünden. Und doch sind sie es, die auf die Straße gehen und ihr Leben für die Freiheit der Frauen riskieren.
Das ist die Bedeutung von “Jin Jiyan Azadi” (Frau Leben Freiheit), ein Ausdruck, der ursprünglich von der kurdischen Frauenbefreiungsbewegung geprägt wurde und zum Schlachtruf während der Proteste im Iran wurde – und es ist ein Slogan, von dem ihr, Männer des Westens, einiges lernen könnt.
In den sogenannten “entwickelten Industrieländern” wie Deutschland, den USA und Großbritannien gibt es noch immer Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern, wodurch Frauen für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt werden. In der jüngsten Vergangenheit haben konservative Richter das Recht auf sichere Schwangerschaftsabbrüche entzogen. Die Entscheidungen über den weiblichen Körper sind ein direkter Angriff auf die körperliche Autonomie der Frauen. Darüber hinaus raubt die unsichtbare, unbezahlte Pflegekrise Frauen ihre Zeit und ihr Verdienstpotenzial.
All diese Beispiele sind seit langem gut dokumentiert. Sie werden bei hochrangigen Treffen von (meistens) Männern diskutiert. Sie werden in Presseerklärungen bedauert oder in nichtssagenden Reden verschleiert erwähnt. Doch auf diesem Weg wird es wirklich noch weitere 300 Jahre dauern, bis die tatsächliche Geschlechtergleichstellung erreicht ist.
So abstoßend die Krise der unbezahlten Care-Arbeit und der Lohnunterschied zwischen den Geschlechtern auch sind, sie sind dabei deutlich weniger polarisierend und lebensbedrohlich als die Geschlechterapartheid, die im Iran und in Afghanistan stattfindet.
Doch zur Wahrheit gehört auch, dass ihr Männer hier im Westen nicht unter der Bedrohung von Hinrichtung, Arbeitsplatzverlust, Folter oder Gefängnis leidet, wenn ihr euch solidarisch für die Emanzipation der Frauen einsetzt. Was hält euch also ab? Wo sind die Männer, die mit aller Kraft für die Geschlechtergleichstellung kämpfen?
Bisher hat kein Land der Welt die Geschlechtergleichstellung erreicht, aber es wird höchste Zeit, dass ihr echte Maßnahmen ergreift. Es gibt nichts, was ihr durch das Eintreten für die Geschlechtergleichstellung verlieren könntet, aber es gibt so viel zu gewinnen.
Am 16. September 2023 werden Menschen auf der ganzen Welt auf die Straße gehen, um sich an eine 22-jährige kurdische Frau zu erinnern, die durch die sogenannte “Sittenpolizei” des Irans getötet wurde. Die iranische Regierung hat bereits in Erwartung der Proteste dessen bereits unzählige viele Frauenrechtsaktivist*innen inhaftiert. Wer weiß, welchen Preis die Protestierenden erst am 16.9. Tag selbst zahlen müssen.
Also schaut in den Nahen Osten für eure Lektionen im Feminismus, nehmt euch ein Beispiel an den mutigen Menschen, die dort ihr Leben für die Gleichberechtigung riskieren, steht solidarisch zusammen, werdet wütend und tragt diese Leidenschaft an jeden Ort und in jede Situation, in der ihr seht, dass die Gleichberechtigung der Frauen auf dem Spiel steht – es ist das Mindeste, was ihr tun könnt.